Artist Nikolay Chernyshevsky Viktor Popkov
Bertholt Brecht GuyDebord
Title ChtoDelat? The Builders of Bratsk

Lob der Dialektik dérive

Actualisation
1234
578
911
Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski, Was tun? (1862)

Was tun? ist eine Art ‘Bildungsroman’, jedoch ausgerichtet an der Sentimentalität der zeitgenössischen Populärliteratur, an Kitschromanen. Erzählt wird die Geschichte eines Paares, die Ihr Leben und Wirken bedingungslos dem Streben nach der Revolution opfern. Was tun? ist ein Bildungsroman gegen die bürgerliche Bildung, für die Agitation einer verpflichteten revolutionären Klasse eines neuen Menschen.
Der Roman beginnt mit dem Selbstmord eines unidentifizierten Reisenden, dessen Tod die beiden anderen Beteiligten eines Dreiecksverhältnisses in tiefe Schuldgefühle stürzt. Nachdem Tschernyschewski eingangs den Lesenden einen guten Ausgang der Geschichte verspricht, setzt er an, über zwei Drittel des Romans die Umstände auszuführen, die zu dieser Situation führten.
Vera Pavlovna, eine Tochter aus gutem Hause, die versucht ihrer Geschlechterrole wie ihrer Klassenherkuft zu entfliehen und begegnet Lophukov, einem scheiternden Medizinstudenten, der eine Verkörperung der neuen Moralität wie auch des bedingungslosen Rationalismus ist. Beide heiraten, um Vera ihrer Familie zu entziehen und finden zunächst ihr Glück in ihrem gemeinsam Wunsch eine rationale und nicht-exploitive Ökonomie zu entwickeln. Vera versucht sich hierin Lophukovs Rationalismus immer mehr anzunähern. Beide werden mehr und mehr eingeführt als Musterbilder des neuen Mannes und der neuen Frau, einer Form des Zusammenlebens, dass zu diesem Zeitpunkt in der russischen Literatur vorbildlos ist. Durch ihren eigenen Emanzipationsprozess erkennt Vera, dass in ihrer Beziehung zu Lophukov etwas fehlt, dass die Rationalität die er in seiner Arbeit verwirklicht, ein Begehren für sie ausschliessen. Sie wendet sich seinem Freund Kirsanov zu, der, wie Lophukov dem Typus des neuen Mannes entspricht. Beide Männer werden als gleichwertig im Sinne des neuen Menschen vorgestellt, es ist lediglich das Behrehren, dass den einen von Vera weg, den anderen auf sie zu treibt. Dies führt den Leser zurück an den Anfang der Geschicht, und klärt ihn darüber auf, dass der Selbstmord Lophukovs nur ein Trugspiel war, um Vera und Kirsanov von der gesellschaftlichen Last der bürgerlich nicht tolerierten Situation zu befreien. Veras Mann, Luphakov, so wird ihr von einer weiteren Figur, dem moralischen Rigoristen Rakhmetov mitgeteilt, ist ins Ausland geflohen und ihre Schuldgefühle sind irrational. In der Darstellung der zweiten Ehe, zwischen Vera Pavlovna und Kirsanov gibt Tschernyschewski die Möglichkeit weitere Figuren der Liebesbeziehung des neuen Menschen zusammenzusetzen und auch Luphukov kehrt, unter dem Namen Beaumont, nach einem längeren Aufenthalt in Amerika zurück nach Russland als erfolgreicher Geschäftsmann. Er beginnt ebenfalls eine neue Beziehung, mit der jungen Katerina, die Kirsanov zuvor aus den fängen ihres Vaters befreit hatte. So können die beiden Paare letztendlich vereint werden, und was innerhalb der bürgerlichen Moralität als Bigamie geächtet wird, erscheint hier als Utopie einer solidarischen und authentischen Liebe auf der Basis einer neuen Moralität, eines neuen Menschen.
Es folgt ein undurchsichtiges Ende, in dem die vier eine “Frau in Trauer” treffen, eine Figur die auf einen Zeitpunkt in vier Jahren, im Jahr 1865 verweist, an dem die Zeit zur Freude, zur “Neudekoration” kommen solle. Eine Hoffnung auf eine kommende Revolution, die Tschernyschewsky hier wiederum in der Art des Groschenromans einführt.
Der ungeheure Erfolg des Romans lag so weniger in seiner literarischen Qualität, als eher in der Figur des revolutionären Asketen die hier angeboten wurde und die für die jüngere Generation der Zeit auf der einen Seite die Identifikation im Gegensatz zur tsaristischen Moral ihrer Eltern bot und auf der anderen Seite die Perspektive auf ein professionelles, lebensausfüllendes Dasein als Revolutionär. Die persönliche Geschichte Tschernyschewskis, seine Inhaftierung, unterstützte diese Popularität noch.

the original Russian text:
http://www.lib.ru/litra/chernyshewskij/chto_delat.txt

translations:
N. G. Tschernyschewskij, Was tun? : Aus Erzählungen von neuen Menschen, Berlin : Aufbau-Verl., 1952
Nikolaj G. Chernyševskij. [Aus dem Russ. übertr. von M. Hellmann] Was tun? : aus Erzählungen von neuen Menschen, Berlin : SWA-Verl., 1947
Nikolai Chernyshevsky, what is to be done? michael r. katz (translator), cornell university press; auflage: new ed (march 1989) isbn-10: 08014954

bibliography (english/german)

Drozd, Andrew Michael, Chernyshevskiis What is to be done? : a reevaluation, Evanston, Ill.: Northwestern University press, 2001.
Kaufer, Marion, Die beginnende Frauenbewegung in Russland und N.G.O. Chernyshevskies roman chto delat?, Frankfurt am Main/New York, P.Lang, 2003.
Pereira, N.G.O. Chernyshevskys What is to be done? as a statement of social utopia. rocky mountain social science journal 1972 9(3): 35-44. issn: 0035-7634
Russell Scott Valentino, Vicissitudes of genre in the Russian novel : Turgenevs Fathers and sons, Chernyshevskys What is to be done?, Dostoevskys Demons, Gorkys Mother, New York, NY [u.a.] : Lang, 2001

// //

Viktor Popkov "The Builders of Bratsk"

Chto delat? on Viktor Popkovs "The Builders of Bratsk":

„As a Soviet art critic once accurately noted, "the paintings main theme is the ‘resurgence of life." By today, this piece has become an iconographic symbol of self-possessed, concentrated people, not only standing on the brink of great changes, but capable of making sense of this transformation and realizing it.?

?It is important to note that the workers on the painting are not shown in the process of working, but that they are taking a well-deserved cigarette break. They have interrupted their work and now have the chance to consider both the relations that govern it, but also the significance it will have to the transformation of society at large. This is exactly how the painting was read in its time, as an interpretation we would like to return to today. This painting is the ideal image of the Thaw under Khrushchev, when it seemed that the real Soviet human being had already been formed, and was now ready to build a communist society. The paintings characters are such people. However, the paintings power lies in the fact that they are absolutely real people, even if they have been idealized.“
Chto delat?, 2004

To follow up this article go to: http://chtodelat.org/index.php?option=com_content&task=view&id=316&Itemid=165

Bibliography Russian (Neo)Realist Art:

Pawel Choroschilow Ed. [Berliner Festspiele ...] Cat., Berlin - Moskva, Moskau - Berlin : 1950 - 2000 ; Martin-Gropius-Bau, Berlin, 28. September 2003 to 5. January 2004 ; Tretjakow-Gallery, Moskow, 21. March to 15. July 2004
Thomas Christ, Der sozialistische Realismus : Betrachtungen zum sozialistischen Realismus in der Sowjetzeit, Basel : Wiese-Verl., 1999
Matthew Cullerne Bown, Socialist realist painting, New Haven [u.a.] : Yale University Press, c1998
Klaus Jarmatz, Forschungsfeld Realismus: Theorie, Geschichte, Gegenwart, Berlin [u.a.] : Aufbau-Verl., 1975
Verena Krieger, Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit: die Anti-Ästhetik der russischen Moderne, Köln: Böhlau, 2006 Hermann Peters, Nachdenken über realistische Kunst: Polemiken, Standpunkte, Argumente, Berlin : Dietz Verl., 1988
Erwin Pracht und Werner Neubert (Hrsg.), Sozialistischer Realismus : Positionen, Probleme, Perspektiven, Berlin : Dietz, 1970

// //

Bertold Brecht, In Praise of Dialectics

Today, injustice goes with a certain stride,
The oppressors move in for ten thousand years.
Force sounds certain: it will stay the way it is.
No voice resounds except the voice of the rulers

And on the markets, exploitation says it out loud:
I am only just beginning.

But of the oppressed, many now say:
What we want will never happen

Whoever is still alive must never say ‘never’!
Certainty is never certain.
It will not stay the way it is.

When the rulers have already spoken
Then the ruled will start to speak.
Who dares say never?

Who s to blame if oppression remains? We are.
Who can break its thrall? We can.

Whoever has been beaten down must rise to his feet!
Whoever is lost must fight back!
Whoever has recognized their condition - how can anyone stop them?
Because the vanquished of today will be tomorrow’s victors
And never will become: already today!

Translation: David Riff

Die Mutter [Bühnenfassung 1951]
Schauspiel von Bertolt Brecht nach Gorki
Premiere: 12. Januar 1951, Berliner Ensemble
?Besetzung: Solo-Ges., Chor, Fl., Klar., Trp., Hn., Bj., Pk., Schl., Klav., Kb.
1.   Wie die Krähe
2.   Das Lied von der Suppe
3.   Der zerrissene Rock
4.   Bericht vom 1. Mai (Melodram) / Gedanken über die rote Fahne
5.   Lob des Kommunismus
6.   Lob des Lernens
7.   Lob des Revolutionärs 
   8.   Im Gefängnis zu singen
9.   Lob der Wlassowas
       10. Lob der dritten Sache
11. Grabrede (für einen Genossen, der an die Wand gestellt wurde)
12. Steh auf! (Die Partei ist in Gefahr)
13. Lob der Dialektik
Rechte und Leihmaterial bei Aufführung des Bühnenstückes („großes Recht“): Suhrkamp
Leihmaterial für konzertante Aufführungen der Bühnenmusik: Breitkopf & Härtel
Noten antiquarisch oder in Bibliotheken: Hanns Eisler, Lieder und Kantaten, Bd. 7 (Breitkopf & Härtel)

Schluss von die Mutter:?

Dienstmädchen: Viele sagen, das, was wir wollen, geht niemals.
Wir sollen zufrieden sein mit dem, was wir haben. Die Macht der Herrschenden ist doch sicher. Wir würden immer wieder
niedergeschlagen werden. Auch viele Arbeiter sagen: Das geht niemals!
Die Mutter rezitiert: Wer noch lebt, sage nicht: niemals!
Das Sichere ist nicht sicher.
So, wie es ist, bleibt es nicht.
Wenn die Herrschenden gesprochen haben
Werden die Beherrschten sprechen.
Wer wagt zu sagen: niemals?
An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns.
An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird? Ebenfalls an uns.
Wer niedergeschlagen wird, der erhebe sich!
Wer verloren ist, kämpfe!
Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?
Denn die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen
Und aus Niemals wird: Heute noch!

Lob der Dialektik wurde von Brecht zuerst in seinem Stück „Die Mutter“ verwendet. In allen drei Fassungen rezitiert die Hauptfigur Pelagea Wlassowa in der Schlussszene einen Teil des Textes, nachdem das Dienstmädchen den Beginn der obigen Fassung in eigenen Worten zusammen gefasst hat. Bei „Die Mutter“ handelt es sich um die Dramatisierung des gleichnamigen Romans von Maxim Gorki von 1906. Erzählt wird darin das „Leben der Revolutionärin Pelagea Wlassowa aus Twersk“ wie es im Untertitel zur zweiten Ausgabe von 1938 heißt. Die Wlassowa führt ein ärmliches Leben, das sie gottergeben trägt. Nach dem Tod ihres Mannes, eines Trinkers, erlebt sie wie ihr Sohn Pawel durch die Lektüre revolutionärer Texte und den Kontakt zu Sozialisten, dem Alkohol abschwört. Zunächst lehnt sie seine politische Arbeit strikt ab, wächst dann aber Schritt für Schritt, beispielsweise durch Flugblattaktionen, in den Aktivismus hinein, bis sie sogar die Rote Fahne bei einer Maidemonstration trägt. Schließlich setzt sie die Arbeit ihres mittlerweile inhaftierten Sohnes fort.
In der Bühnenfassung von Brecht kommen einige Lieder vor, die er im Exil in die 1934 in Paris veröffentlichte Sammlung „Lieder. Gedichte. Chöre“ aufnahm. Sie sind dazu im dritten Kapitel mit weiteren aus dem Stück „Die Maßnahme“ zusammengeführt und neu angeordnet worden und haben dadurch einen neuen Sinnzusammenhang erhalten. Es handelt sich um singbare Texte von ausgesprochen appellativen Charakter. Hierbei zeigt sich, dass Brecht mit der Sammlung auf eine Mobilisierung von Widerstand abzielte. Zunächst werden die Sorgen des Proletariats und dessen Kämpfe beschrieben. Danach wird der Ausweg im kommunistisch-revolutionären Zusammenschluss aufgezeigt und schließlich revolutionäre Arbeit – offene und illegale - propagiert.
Hier bildet das Lob der Dialektik den Abschluss. Es verbindet gewissermaßen eine Zusammenfassung der vorangegangenen Lieder mit einem optimistischen Ausblick.
Dieses politische Liederbuch sollte einen wichtigen Gegenpol zur Vereinnahmung des Volksliedguts durch die Nationalsozialisten in Deutschland bilden. Idee war, einen Teil der Auflage über die saarländische Grenze nach Deutschland zu bringen und in antifaschistischen Kreisen zu verbreiten. Inwiefern dies umgesetzt werden konnte, ist allerdings unklar.
Auch das Lob der Dialektik wurde in die Sammlung aufgenommen und um den bekannten Anfang erweitert wurde. Zu diesem Anlass ist auch erstmals eine Vertonung durch Hanns Eisler gesichert. Auf dieses Weise gelangte das Lob der Dialektik in den Liedschatz der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Weltweit verbreitet ist insbesondere die Interpretation von Ernst Busch.

Bibliografie:
Hecht, Werner (Hrsg.): Bertolt Brecht. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Berlin/Frankfurt a. M., 1988-2000.
Knopf, Jan (Hrsg.): Brecht-Handbuch in fünf Bänden. Stuttgart, 2001-2003.
Lucchesi, Joachim; Skull, Ronald K.: Musik bei Brecht. Frankfurt a. M., 1988 (1.Aufl.).

// //

Dérive/Drift

„An experimental way of behaviour related to the conditions of urban society: a technique of hastily traversing diversified environments. More specifically also: the duration of a continuous exercise of this experiment.“ Der Beginn einer Epoche, S.51 (transl. from German)

„Theorie des Umherschweifens

Unter den verschiedenen situationistischen Verfahren ist das Umherschweifen eine technik des eiligen Durchquerens abwechslungsreicher Umgebungen. Das Konzept des Umherschweifens ist untrennbar verbunden mit der Erkundung von Wirkungen psychogeografischer Natur und der Behauptung eines konstruktiven Spielverhaltens, was es in jeder Hinsicht den klassischen Begriffen der Reise und des Spaziergangs entgegenstellt. (...)
Dabei ist der Anteil des Zufälligen weniger ausschlaggebend, als man es im allgemeinen glaubt: Vom Standpunkt des Umherschweifens aus haben die Städte ein psychogeographisches Bodenprofil mit beständigen Strömen, festen Punkten und Strudeln, die den Zugang zu gewissen Zonen oder ihr Verlassen sehr mühsam machen. Das Umherschweifen als Einheit umfasst aber zugleich dieses Sich-Treibenlassen und den notwendigen Gegensatz – die Beherrschung der psychogeographischen Variationen durch die Kenntnis und die Berechnung ihrer Möglichkeiten. (...)
Das objektive, leidenschaftliche Gebiet, auf dem sich das Umherschweifen bewegt, muss zugleich entsprechend seinem eigenen Determinismus und seinen Beziehungen zur sozialen Morphologie definiert werden. (...)
Der Zufall spielt beim Umherschweifen eine um so wichtigere Rolle, als die psychogeographische Beobachtung heute noch weniger sicher ist. Die Zufallswirkung ist aber von Natur aus konservativ und tendiert dahin, in einem neuen Rahmen alles auf den Wechsel einer begrenzten Anzahl von Varianten und auf die Gewohnheit und auf die Gewohnheit zurückzuführen. (...)
Die Lehren des Umherschweifens ermöglichen es erstmals, die psychogeographische Gliederung einer modernen Stadt aufzuzeichnen.“
Guy Debord, In: Der Beginn einer Epoche 64ff.

online archiv: http://www.cddc.vt.edu/sionline/

Original Sources:
Debord, Guy, Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der internationalen situationistischen Tendenz und andere Schriften, Hamburg : Ed. Nautilus Verl. Schulenburg, 1980
Tom McDonough (Ed.), Guy Debord and the situationist international : texts and documents, Cambridge, Mass. [u.a.] : MIT Press, 2002
Übers. Pierre Gallissaires, Hanna Mittelstädt, Roberto Ohrt, Der Beginn einer Epoche : Texte der Situationisten, Hamburg : Ed. Nautilus, 1995

bibliography:
Jean-François Lyotard, Dérive à partir de Marx et Freud, Paris : Éd. Galilée, 1994
Roberto Ohrt, Phantom Avantgarde : eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst, Hamburg : Edition Nautilus [u.a.], 1990
Simon Sadler, The situationist city, Cambridge, Mass. [u.a.] : MIT Press, 1998